Santa Marta, Montag, 25. Mai 1840
Euer Ehrwürden Magister Arminio Cavallaro
Mit diesem Brief ersuche ich um Eure Hilfe.
Meine Tochter Lorelia wird seit einigen Monaten vermisst. Auf meine telepathischen Rufe reagiert sie nicht. Ihre Anwesenheit ist in Santa Marta für Familienangelegenheiten jedoch dringend erforderlich.
Anbei habe ich Euch ein Porträt von meiner Tochter gelegt. Sie ist 26 Jahre alt und hat ihre Gesellenprüfung letzten Herbst absolviert. Seitdem geht sie ihrem eigenen Studium der edlen Steine nach. Da es in Brasilien zahlreiche Edelsteinvorkommen gibt, vermute ich, dass sie sich in einer der Minen in Minas Gerais oder den umliegenden Wäldern versteckt. Diese Gegend ist während ihrer Ausbildung bei Magistra Glandera zu einer zweiten Heimat geworden.
Da mir Eure Spezialfähigkeiten im Umgang mit Flüchtigen bei der Gendarmerie in Rom bekannt sind, möchte ich Euch gern privat beauftragen: Bringt mir meine Tochter bis Ende Juli zurück, und Ihr erhaltet ein Kilogramm Gold als Bezahlung.
Hochachtungsvoll
Thiveus Guedes Flores
Nur ein Kilogramm Gold für ein entlaufenes Gör? Willst du mich beleidigen? Kopfschüttelnd ließ Arminio den Brief auf seinen Schreibtisch sinken. Che palle. Du bist zu dumm, um zu wissen, wie ich arbeite. Wenn dir deine Tochter etwas wert wäre, würdest du mir mehr anbieten. Wie soll ich sie anhand eines Porträtbilds suchen? Arminios haute mit seinen Fingerspitzen abfällig auf die Zeichnung und sah aus dem Fenster auf das Straßencafé unweit der Piazza Navona. Warum hatte ihm der Luftmagier überhaupt einen Brief zukommen lassen, und sein Anliegen nicht telepathisch vorgetragen, wie es üblich war?
Aus der untersten Schublade seines Mahagoni-Schreibtisches holte Arminio eine neue Mappe hervor. Dann tauchte er seine Schreibfeder in das Tintenglas und schrieb ‚Lorelia‘ auf die Akte. Mit zusammengezogenen Augenbrauen starrte der Capitano der römischen Gendarmerie auf die Augen der Gesellin. Für eine Kolumbianerin hatte sie ungewöhnlich kornblumenblaue Iriden. Warum beantwortest du die Rufe deines Vaters nicht?, befragte er die Zeichnung und legte den Kopf schräg. Ein nervöses Kribbeln durchfuhr seine Arme. Das Lächeln der Gesuchten war eindeutig gestellt. Die langen, dunklen Haare und die vollen Lippen würden ihm in Südamerika bei einer Suche nicht weiterhelfen. Es wimmelte dort vor Schönheiten wie ihr, und er hatte bereits unzählige in seinem Bett gehabt. Für die Fahndung benötigte er etwas Zusätzliches: eine Wärmesignatur ihres Körpers. Wenn er in den letzten Jahrzehnten die Zusammenkünfte in Chattenberg nicht vermieden hätte, wäre ihm Glanderas Akolythin sicherlich aufgefallen. Dieser Auftrag stinkt gewaltig.
Arminio zuckte mit den Schultern. Die Gesuchte war eine Frau wie alle anderen. Mit seinem kupferroten Haar war er ein Blickfang und seinem sizilianischen Charme konnte bislang keine widerstehen. Es würde ihm ein Leichtes sein, sie davon zu überzeugen, mit ihm zu kommen. Sein erster Schritt stand bereits fest und Arminio grinste breit, als er sich auf die telepathische Verbindung mit der Meisterin der Gesuchten vorbereitete.
„Glandera? Hier ist Arminio, darf ich einen Moment um deine Aufmerksamkeit bitten?“
Die Erdmagierin antwortete ihm sofort. „Grüße Arminio, bitte sprich.“
„Ich hätte ein paar Fragen zu deiner Gesellin Lorelia. Darf ich dich persönlich aufsuchen?“
Eine kurze Pause entstand, bevor Glandera antwortete. „Ferron und ich sitzen gerade auf seiner Terrasse. Komm doch auf einen Kaffee bei uns vorbei.“
„Sehr gern, vielen Dank.“
Mit geübten Handgriffen räumte er seinen Schreibtisch auf und faltete den Brief zusammen und stecktee ihn mit der Zeichnung zurück in den Umschlag. Seine Hand schwang in einer liegenden Acht und das blauviolette Portal öffnete sich in den Erdtrakt der Magierakademie der hohen Künste zu Chattenberg.
„Zio Ferron.“ Arminio neigte sein Haupt, um seinen Patenonkel zu grüßen.
„Sei gegrüßt, Arminio“, erwiderte der Erdmagier.
„Grüße, Glandera.“ Lächelnd beugte sich der Feuermagier zu der Kristallmagierin hinunter, um sie mit zwei Wangenküssen zu begrüßen.
Mit einem warmen Lächeln sah Glandera den Sizilianer an. „Arminio, es freut mich so, dich zu sehen. Setz dich bitte.“ Mit einer einladenden Bewegung deutete sie auf den gusseisernen Gartenstuhl und streichelte dabei über ihren Bauch.
„Gern. Vielen Dank, dass du für mich Zeit hast. Wie geht es dem Baby?“ Er faltete die Hände auf seiner roten Hose.
„Sehr gut.“ Glandera streichelte über ihren kleinen Bauchansatz. Sie hatte dieses innere Leuchten, das nur eine Schwangere ausstrahlen konnte, und suchte mit der freien Hand die von Ferron. „Wir freuen uns so sehr.“
Der Feuermagier nickte. Er freute sich, dass sie sich endlich den Kinderwunsch erfüllten. „Und wie geht es dem werdenden Vater?“
Das Strahlen von Ferron glich einem Leuchtturm. „Ebenfalls ausgezeichnet.“
Glandera sah zum Himmel. „Er ist noch aufgeregter als ich und lässt mich kaum aus den Augen. Ständig sagt er mir, ich solle mehr ruhen.“
Arminio schmunzelte. „Kein Wunder. Für Ferron bedeutet dieses Baby die Welt.“
Der Erdmagier lehnte sich entspannt zurück. „Ich habe auch über vierhundert Jahre auf diesen Moment gewartet.“
Mit magischem Blick starrte Arminio auf ihren Bauch. Schnell hatte er die Nabelschnur gefunden und sah den Blutkreislauf des Ungeborenen. „Ihr wisst bereits, welches Geschlecht das Baby hat, oder soll ich es euch verraten?“
„Bloß nicht! Wir möchten uns überraschen lassen.“ Glandera winkte lachend ab.
„Möchtest du eine Tasse Kaffee?“, fragte Ferron.
„Nein Danke.“
Glandera legte den Kopf schräg. „Wie kann ich dir weiterhelfen?“
Der Capitano fuhr sich mit den Fingern durch sein kurzes, kupferfarbenes Haar. „Können wir die Angelegenheit drinnen besprechen?“
Die Magierin stand behäbig auf. „Du weißt, dass ich keine Geheimnisse vor Ferron habe. Ich werde ihn sicher über unser Gespräch in Kenntnis setzen.“
Glanderas Arbeitszimmer hatte sich seit seinem letzten Besuch verändert. In der Vitrine lagen Exponate aus aller Welt, die die Kristallmagierin während ihres Studiums gesammelt hatte. Doch Arminio interessierten die farbenfrohen Minerale, die im Sonnenlicht glitzerten, nicht. Er folgte der Erdmagierin an ihren Schreibtisch, neben dem bereits eine Krippe stand, und nahm auf dem Besucherstuhl Platz.
Leise seufzend lehnte sich Glandera in ihrem Stuhl zurück. „Nun, Arminio, worum geht es?“
„Gesellin Lorelia wird von ihrem Vater vermisst. Anscheinend hat sie sich seit ihrer Prüfung nicht mehr bei ihm gemeldet.“ Er griff in seine Brusttasche und reichte ihr den Brief „Magister Thiveus hat mich damit beauftragt, sie in den brasilianischen Edelsteinminen zu suchen, doch bevor ich mich auf den Weg mache, wollte ich fragen, ob du etwas über sie erzählen magst. Schließlich warst du ihre Meisterin.“
Glandera überflog die Zeilen und ihre Stirn runzelte sich. „Was genau möchtest du wissen?“
„Wann hast du sie das letzte Mal gesehen?“
Ihre Augenbrauen bildeten eine feine Linie in der Mitte. „Vor etwa zwei Monaten.“
„Weswegen?“
Glandera schüttelte leicht den Kopf. „Ganz banale Dinge: Sie wollte mit mir über ihre neusten Forschungsergebnisse reden.“
„Edelsteinthemen?“
„Ja, genau.“
Er senkte das Kinn. „Wie ging es ihr?“
Ungläubig zuckte Glandera mit den Schultern. „Sie war glücklich, ihre Augen leuchteten vor Begeisterung. Wir waren beide in unserem Element, als wir fachsimpelten. Arminio, ich weiß nicht, was dir diese Befragung bringen soll. Möchtest du, dass ich sie rufe? Dann kannst du direkt mit ihr reden.“
„Nein. Ich will sie nicht vorwarnen.“ Er machte eine Pause, bevor er leiser fortfuhr. „Ich frage mich, was sie für einen Grund hat, nicht auf die Rufe ihres Vaters zu reagieren? Keine Frau in dem Alter würde die wilden Wälder bevorzugen.“
Glandera lachte gespielt. „Was für ein Unsinn! Es gibt Menschen, die schätzen die unberührte Natur, weil es ihr Zuhause ist. Selbst ihre Ausbildungszeit haben wir hauptsächlich in den Minen verbracht. Als Erdmagierin kennt sie jeden Stein und Felsen. Sie weiß, wie sie sich gegen die wilden Tiere wehren kann, und hat einen guten Orientierungssinn. Sie geht nicht einfach verloren.“
„Ist das Gebiet weitläufig?“
„Oh ja.“ Glandera strich sanft über ihren Bauch. „Brasilien ist reich an Edelsteinvorkommen. Es ist ein wahres Paradies für uns.“
Arminio richtete sich im Stuhl auf. „Du weißt, dass ich ein Wärmebild benötige, um Lorelia zu finden. Magister Thiveus hat sie seit Monaten nicht gesehen. Daher möchte ich dich bitten, mir ihr aktuelles Aussehen zu übermitteln.“
Die Magistra nickte und beide erhoben sich. Als sie vor ihm stand, änderten ihre Iriden die Farbe von Braun in das Gold von Bernsteinen. Sie legte ihren Daumen auf Arminios Stirn und in seinem Geist erschien eine Erdmagierin in Ornat. Lorelia trug ihr dunkles Haar offen und strahlte, während sie Glandera einen violettfarbenen Edelstein zeigte.
„Ich danke dir. Kannst du mir auch eine Karte der brasilianischen Wälder mit den Minen geben?“
Vor seinem inneren Auge erschien die Landschaft. Städte und Ortsnamen, die er bereits kannte, gaben ihm eine Möglichkeit, sich zu orientieren. Sein Wissen wurde mit leuchtenden Punkten von Bergwerken ergänzt – die Position der Edelsteinvorkommen in den Tiefen der Erde.
„Beeindruckend.“ Arminio bedankte sich mit einem Kopfnicken.
„Wir wissen beide, dass dies kein Thema ist, das dich interessiert.“
Arminio reckte sein Kinn. „Worauf ist Gesellin Lorelia spezialisiert?“
Glanderas Augen glitzerten. „Auf die Lithotherapie. Sie erforscht derzeit alternative Heilmethoden. Von der Erdelementarlehre besitzt sie nur die erforderlichen Grundkenntnisse – sehr zum Ärgernis von Ferron. Doch sie weiß, wie sie die Erde bewegen und manipulieren kann.“
„Lebt sie noch nach dem Kodex der Magierakademie?“, erkundigte sich der Capitano.
„Natürlich tut sie das.“
„Kannst du dich an einen Einsatz erinnern, an den auch ich gerufen wurde?“
„Lass uns miteinander überlegen.“ Zielstrebig ging Glandera zu einer Vitrine und holte einen grün-violett gestreiften Edelstein hervor, der die Form eines Oktaeders hatte. „Hier, der Fluorit wird uns bei der Konzentration helfen.“
Arminio hielt nichts von deren Wirkung, doch er wusste, dass Glandera eine großartige Kristallmagierin war. Somit ließ er es zu, dass sie den Stein in seine Hände legte und mit ihren umschloss. Gebannt sah er in ihre bernsteinfarbenen Iriden, während sie Magie wirkte.
„Am x.x.1834 wurdet ihr zu einem Erdbeben gerufen, um Verschüttete zu suchen. Dort assistierte sie mir.“
Blitzschnell durchforstete Arminio seine Erinnerungen. Jeder Mensch war in seinem Aussehen einmalig,, und so war das auch mit dessen Wärmesignatur in seiner magischen Sicht. Sobald er die warmen Leiber der Opfer gefunden hatte, teilte er deren Lage den Erdmagiern mit, damit sie die Gebäude vom Schutt befreien konnten. Die Adern im Körper glichen einem einmaligen Fingerabdruck, und da er die Signatur von Glandera kannte, brauchte er nicht lange, bis er eine Frau an ihrer Seite erkannte. Sie war groß, schlank, durchtrainiert und bewegte sich grazil. Seine Mundwinkel zogen sich nach oben. Damit konnte er seine Suche starten. „Ich danke dir. Gab es bereits Vorfälle, bei denen sie einem Magister nicht antwortete?“
„Nein. Wenn wir sie rufen, erhalten wir zuverlässig eine Rückmeldung. Doch sonst ist sie freiheitsliebend, eine Charaktereigenschaft, die dir bekannt sein sollte.“ Sie nahm den Edelstein aus seiner Hand, trat einen Schritt zurück und hob die rechte Augenbraue.
Langsam zogen sich Arminios Mundwinkel nach oben. Ihre Spitzfindigkeit amüsierte ihn. „Ich danke dir, Glandera. Grüße bitte Furio von mir, falls du ihn diese Woche siehst.“
Die Lippen der Magierin wurden schmal. „Das mache ich.“
Mit einer routinierten Bewegung formte Arminio eine liegende Acht. „Ach, noch etwas: Hat Lorelia jemals ihren Vater erwähnt?“
„Nicht von sich aus. Thiveus erschien nicht einmal zu den Feierlichkeiten ihrer Gesellenprüfung. Da er Luftmagier ist, wundert es mich nicht, dass sie gegenteilige Ansichten vertreten.“ Glandera neigte den Kopf zum Abschied. „Ich wünsche dir viel Erfolg, Arminio.“
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